Otto v. Bismarck
Der Berliner Kongress: In der Mitte Reichskanzler Otto v. Bismarck, rechts die osmanischen Delegierten

Fridtjof Nansen
Fridtjof Nansen

Sultans Abdülhamit II.
Sultans Abdülhamit II.

Massengrab
Massengrab

Massengrab
Massengrab

Anerkennerstaaten
„Anerkennerstaaten“ einschließlich jener Bundesstaaten (USA, Australien), in denen zumindest einige Bundesländer Anerkennungsbeschlüsse gefasst haben

Mahnmal für die Opfer des Völkermordes
Mahnmal für die Opfer des Völkermordes

Der Völkermord an den Armeniern (Genozid)

Unter osmanisch-türkischer Herrschaft

Mit dem bilateralen Vertrag von Diyarbekir (1639) endeten zwei Jahrhunderte türkisch-iranischer Vormachtkämpfe um das Armenische Hochland. Neun Zehntel des armenischen Siedlungsgebiets standen fortan unter osmanischer Herrschaft. Die siegreichen Osmanen behandelten die Armenier wie alle Nicht-Muslime als Bürger zweiter Klasse: Sie mussten zahlreiche Sondersteuern zahlen (unter anderem dafür, dass sie bis 1908 vom Militärdienst ausgeschlossen blieben), durften keine Waffen besitzen und mussten sich schon durch ihre Kleidung als Christen zu erkennen geben. Vor Gericht besaß ihre Zeugenaussage geringeren Wert als die eines Muslims.

Reformversuche während der Tanzimat-Periode (1839-1876) blieben Stückwerk. Die osmanische Verfassung (1876), die die rechtliche Gleichstellung aller Bürger beinhaltete, wurde kurz nach ihrer Verkündung aufgehoben und trat erst 1908 wieder in Kraft. Eine wirkliche Überwindung des religiös begründeten millet-Systems und der darin enthaltenen Ungleichstellung von Muslimen und christlichen Bürgern gelang bis zum Ende des Osmanischen Reiches nicht.

Europa und die Türkei

Die zur internationalen Regelung des russischen Sieges über das Osmanische Reich 1878 in Berlin abgehaltene Friedenskonferenz verfügte unter anderem in Artikel 61 des multilateralen Berliner Vertrages Verwaltungsautonomie für die „armenischen Provinzen“ des Osmanischen Reiches und machte deren Verwirklichung – die „Armenische Frage“– zur Angelegenheit der sechs damaligen europäischen Großmächte Russland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien.

Erst 1913, in einem Kriegsjahr, gelang es den „Mächten“ – namentlich Deutschland und Russland – der türkischen Regierung die Zusage zu einem Reformprojekt abzuringen. Doch bereits im folgenden Jahr 1914 setzte die osmanische Regierung das Projekt mit dem Hinweis auf den Kriegsausbruch aus und annullierte 1916 das Reformprojekt gänzlich.

Sowohl der deutsche evangelische Theologe und engagierte Armenierfreund Dr. Johannes Lepsius, als auch der norwegische Humanist, Naturforscher und spätere Oberkommissar des Völkerbundes, Fridtjof Nansen, hielten die Europäisierung der „Armenischen Frage“ für eine wesentliche Ursache des Völkermordes:

„Ich war 1913 in Konstantinopel. Während der Verhandlungen waren die Jungtürken aufs äußerste erregt darüber, dass die armenische Reformfrage wieder die Mächte beschäftigte, und doppelt erbittert, als sie infolge der Verständigung zwischen Deutschland und Russland in einer den Armeniern erwünschten Weise geordnet wurde. Damals wurde von jungtürkischer Seite geäußert: ‚Wenn Ihr Armenier von den Reformen nicht die Finger lasst, wird etwas passieren, demgegenüber die Massaker Abdul Hamids ein Kinderspiel waren.“

(Quelle: Aus der Zeugenaussage des J. Lepsius vom 03.06.1921 vor dem Schwurgericht des Land-gerichts III von Berlin; Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht: Der Prozess Talaat Pascha. Neuauflage Göttingen; Wien 1985, S. 60)

Der von der Untätigkeit und Wortbrüchigkeit der westlichen Diplomatie zutiefst frustrierte Nansen schrieb Mitte der 1920er Jahre nach dem Scheitern seines „Marshallplans“ zur Rettung der überlebenden Armenier:

„Europas Völker und Staatsmänner sind der ewigen armenischen Frage müde. Selbstverständlich. Sie haben sich ja in dieser Frage nur Schlappen geholt. Schon der Name Armenien weckt in ihrem schlummernden Gewissen die Erinnerung an eine unheimliche Kette gebrochener oder unerfüllter Gelöbnisse, für deren Innehaltung sie niemals einen Finger gekrümmt haben. Ging es doch nur um jenes kleine, blutende, aber begabte Volk ohne Ölfelder und ohne Goldminen! Wehe dem armenischen Volk, dass es in die europäische Politik verwickelt wurde! Ihm wäre besser, wenn sein Name nie im Munde eines europäischen Diplomaten gewesen wäre. Aber das armenische Volk hat nie die Hoffnung aufgegeben. In steter, zäher Arbeit hat es gewartet, lange gewartet. – Es wartet bis auf diesen Tag.“

(Quelle: Fridtjof Nansen: Betrogenes Volk: Eine Studienreise durch Georgien und Armenien als Oberkommissar des Völkerbundes. Leipzig 1928, S. 334)

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Anfänge der Vernichtung

Zu größeren Massakern an der armenisch-osmanischen Bevölkerung kam es während und nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877, als kurdische Stammeskrieger und irreguläre osmanische Hilfstruppen in Van, Bitlis, Musch, Payazat (Bayezid) sowie Alaschkert zahlreiche armenische Dörfer plünderten und nieder brannten. Obdachlosigkeit und Verelendung, fortgesetzte kurdische Überfälle sowie eine Dürre im Jahr 1879 führten zu etwa 40.000 Opfern und dem Exodus von 200.000 Armeniern.

Die im 19. Jahrhundert halbherzig und schleppend eingeführten Reformen scheiterten vor allem am Widerstand der konservativen osmanischen Elite und der zunehmend antichristlichen Stimmung. Denn den christlichen Untertanen des Sultans wurde die Schuld am Land- und Machtverlust des zerfallenden Osmanischen Reiches zugewiesen. Sie galten seit der Wende zum 20. Jahrhundert als „innere Feinde“. Als deutscher Botschafter zu Athen berichtete Hans von Wangenheim bereits am 24. Juni 1909 von Vernichtungsabsichten:

„Die Türken haben einen Ausrottungskrieg gegen die Christen des Reiches beschlossen…“

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Holocaust

Während der Herrschaft des despotischen Sultans Abdülhamit II. (Regierungszeit 1876-1909) kam es zu Christenmassakern bei der Niederschlagung lokaler Unruhen bzw. Aufstandsversuche: im April 1876 in Bulgarien, 1895/96 auf Kreta und 1894-96 im armenischen Siedlungsgebiet (Sassun), von wo sich die brutale Niederschlagung eines regionalen Aufstands armenischer Bauern zu landesweiten Massakern ausweitete.

Das armenisch-apostolische Patriarchat von Konstantinopel bezifferte die Opfer der Blutbäder in Konstantinopel, Erzurum, Van, Urfa und an vielen anderen Orten sowie der nachfolgenden Hungersnöte und Seuchen mit 300.000.

Als Zeitzeugin bezeichnete die amerikanische Missionarin Corinna Shattuck die Lebendverbrennung von 3.000 Armeniern in der armenischen Kathedrale zu Urfa Ende 1895 als „Holocaust“ – ein Ausdruck, der seither von europäischen Publizisten zur Umschreibung der Massaker an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches verwendet wurde. Dabei fielen, besonders in der Provinz Diyarbekir, auch Angehörige anderer christlicher Kirchen – insbesondere Aramäer/Assyrer – dem Massenmord zum Opfer.

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Der Entschluss zur Vernichtung

Das reaktionäre Regime Adülhamits beförderte den Zusammenschluss oppositioneller Kräfte, darunter auch die Mehrheit der damals im Osmanischen Reich verbotenen sozialrevolutionären armenischen Partei Daschnakzutjun. Sie erhoffte sich vom Sturz des Sultans die Wiedereinführung der osmanischen Verfassung und unterstützte deshalb die ebenfalls in den Untergrund gedrängten jungtürkischen Nationalisten.

Deren Militärputsch im Juli 1908 bewirkte allerdings keine grundlegende Verbesserung der Lage der osmanischen Armenier. Schon im April 1909 kam es während eines Gegenaufstands der Sultansanhänger in der Provinz Adana zu erneuten Armeniermassakern mit 30.000 Opfern, wobei die nun regierenden Nationalisten („Jungtürken“) zumindest Mitschuld trugen. Auf ihren Jahresparteitagen 1910 und 1911 beschlossen die Jungtürken, mit sprachlicher Assimilation und Zersiedelung dem Zerfall des Osmanischen Reiches Einhalt zu gebieten, nötigenfalls auch mit Gewalt und „militärischen Mitteln“.

Für den seit Jahrzehnten kriselnden osmanischen Feudalstaat begann mit den Balkankriegen eine zehn Jahre währende Kriegsperiode. Die seit 1913 allein herrschende Nationalisten der Ittihat ve Terakki („Komitee für Einheit und Fortschritt“; bekannter als Jungtürken) profilierten sich als Partei entschlossener Patrioten sowohl islamistischer als auch türkistischer Geisteshaltung. Die Hardliner unter ihnen gehörten zu jenem rechtsorientierten Segment europäischer und nahöstlicher Eliten, die den Krieg als nationales „Heilmittel“ herbeisehnten.
Weitere Landverluste des Osmanischen Reiches während der Balkankriege (1912/13) sowie die massenhafte Flucht und Vertreibung muslimischer Osmanen vom Balkan bestärkten die jung-türkischen Nationalisten in ihrer Entschlossenheit, den multireligiösen osmanischen Vielvölkerstaat in eine monoethnische „Türkei der Türken“ umzuwandeln und dabei auch vor der physischen Vernichtung von Gruppen nicht zurückzuschrecken, die man für unassimilierbar und gefährlich einstufte. Die nationalistische Autorin Halide Edip (Adıvar), damals eine Galionsfigur der Türkisten, erwähnte in ihren Memoiren (1926) rückblickend, dass bereits während der Balkankriege die damalige Führungsschicht „das Gefühl“ beherrschte, „die Türken müssten andere ausrotten, um ihrer eigenen Ausrottung zuvorzukommen.“

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Massaker und Deportationen

Massakern und Deportationen der griechisch-osmanischen Bevölkerung Thrakiens und Ioniens (Westanatolien) 1913-1914 folgten nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite der Mittelmächte landesweite Massaker sowie die von der Regierung angeordnete Deportation der Armenier als angeblich „verdächtige Bevölkerung“. Das entsprechende Gesetz vom 14. (alten Stils)/ 27. Mai 1915 wurde drei Tage nach einer gemeinsamen Note Großbritanniens, Frankreichs und Russlands verabschiedet, die gegen die Armeniermassaker protestiert hatten.

Die Zwangsumsiedlung in die wüstenartigen Gebiete Nordostsyriens erwies sich als Todesmarsch: Das Tempo und die Zahl der Rasten bestimmten aus der Haft entlassene Schwerverbrecher, Kurden sowie Angehörigen von einst selbst vertriebenen Ethnien zusammengesetzten Begleitmannschaften. Absichtlich führten sie die Deportierten in Umwege oder solange im Kreise, bis diese erschöpft zusammenbrachen. Zahlreiche Überfälle, Plünderungen und Massaker der muslimischen Bevölkerung an den Deportierten wurden weder verhindert, noch bestraft. Wer die Strapazen und Massaker überlebte, gelangte in Mesopotamien in eine von Hungersnot gequälte Region, hervorgerufen durch die Seeblockade der Alliierten sowie die Zurückhaltung staatlicher Getreidevorräte.

Eine besondere Rolle bei Massentötungen spielten die irregulären Einheiten der Sonderorganisation (Teşkilat-ı Mahsusa), die aus einem vermutlich schon 1911 ins Leben gerufenen Auslandsgeheimdienst mit Sabotagefunktion hervorgegangen war und Anfang 1914 unter der Führung des jungtürkischen Kriegsministers Enver reorganisiert wurde. Im Jahr 1915 gehörten der Sonderorganisation 30.000 Personen an.

Hans von Wangenheim, nun deutscher Botschafter zu Konstantinopel, trat am 7. Juli 1915 in einem Schreiben an den Reichskanzler der offiziellen türkischen Darstellung entgegen, dass die Deportation der armenischen Bevölkerung eine rein kriegsbedingte Vorkehrmaßnahme sei:

„(…) die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigt, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“

(Quelle: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, PA-AA/R14086, zitiert nach der Ausgabe auf der Webseite www.armenocide.de

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Zwangsarbeit

Als unzuverlässig geltend, mussten viele wehrpflichtige christliche Bürger des Osmanischen Reiches seit Juli 1914 ihren Dienst waffenlos in Zwangsarbeiterbataillonen (amele tabular-ı) ableisten. Als Lastträger oder im Straßenbau wurden sie trotz Unter- und Fehlernährung und bei härtesten klimatischen Bedingungen eingesetzt, bis sie an Erschöpfung oder an Seuchen starben. Zwangsarbeiter, die auch diese Strapazen überlebten, wurden nach Abschluss ihrer Arbeiten getötet oder mussten zum Islam übertreten. Insgesamt gab es 120 derartige Zwangsarbeiterbataillone. Am 02.03.1921 sowie im Herbst 1922 erfolgten weitere Rekrutierungen nichtmuslimischer Zwangsarbeiter. Auch Frauen und Kinder wurden bei Zwangsarbeiten eingesetzt.

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Die zweite Phase der Vernichtung

Die Überlebenden der Deportationen wurden in Konzentrationslagern entlang der Bagdadbahn “angesiedelt“ – ohne richtige Ernährung und Unterkunft. Hunger, Durst, Erschöpfung und Seuchen taten ihr Werk nach dem Geschmack des jungtürkischen Kriegsregimes zu langsam. Das Ziel der jungtürkischen Bevölkerungspolitik war es aber, dass keine nichttürkische Ethnie irgendwo mehr als sechs Prozent an der Gesamtbevölkerung bilden sollte. Ab Frühjahr bis zum Winter 1916 wurden diese Lager durch systematische Massaker sowie Massenverbrennungen in erdölhaltigen Höhlensystemen liquidiert.

Die berüchtigtsten Lager bestanden in Deir ez Zor-Marat und Ras-ul-Ain, wo 1916 200.000 Armenier massakriert wurden. Insgesamt kamen 630.000 der 870.000 Deportierten in der Region um, Tausende durch Lebendverbrennungen und -erstickungen. Dazu trieb man die Opfer in Höhlen, vor denen riesige Scheiterhaufen entfacht wurden, so dass die Menschen in den Höhlen erstickten. Oder man setzte erdölhaltige Höhlen in Brand, wie das noch immer „Chabs-el-Ermen“ („Graben der Armenier“) genannte Höhlenlabyrinth bei dem Dorf Schaddadeh am Chabur-Fluss; dort verbrannten und erstickten an die achtzigtausend Armenier.

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Kindeswegnahme

Die Kindeswegnahme bildet einen von fünf Straftatbeständen, die die Vereinten Nationen als Genozid werten. Kindeswegnahme erfolgte während des Völkermords sowohl staatlich organisiert, als auch durch Privatpersonen. In beiden Fällen waren die Motive keineswegs immer altruistisch. Kinder und Jugendliche, die ihre Angehörigen während der Deportationen und Massaker verloren hatten oder von diesen weggegeben wurden, waren ihren Besitzern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert; häufig wurden sie sexuell ausgebeutet und mussten wie Sklaven schuften.

In Bitlis, Urfa and Trabzon richteten die Behörden bzw. führende Funktionäre der Ittihat-Partei Bordelle ein, in denen armenische Mädchen Armeeangehörigen oder Ittihat-Mitgliedern zur Verfügung gestellt und meist anschließend getötet wurden. In Urfa und Bitlis fand diese serielle Kinderschändung in armenischen Kirchen statt.

In die staatlichen Waisenheime, die Cemal Paşa, der Kriegsflottenminister und Oberbefehlshaber in den syrischen Deportationsgebieten Ende 1916 durch Halide Edip einrichten ließ, wurden nur Kinder bis zu einem Alter von 13 Jahren aufgenommen und gemeinsam mit muslimischen Flüchtlingswaisen aufgezogen. Das Ziel dieser staatlichen Waisen“betreuung“ war die sprachliche und religiöse Assimilation. Der deutsche Konsul zu Aleppo, Walter Rössler, kommentierte kritisch:

„Die Armenier sollen auf diese Weise zu vaterlandsliebenden Osmanen und, wie die offene oder stillschweigende Voraussetzung ist, zu Muhammedanern gemacht werden. Es ist schwer, hierbei die Erinnerung an die Rekrutierung der Yanitscharen zu unterdrücken.“

Die dem Deutschen Hilfsbund für Christliches Liebeswerk im Orient seit 1915 immer wieder angedrohte Wegnahme der in Aleppo betreuten armenischen Waisen bzw. die Schließung des Hilfsbunds-Heims wurde ab Februar 1917 in die Tat umgesetzt.

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Gesamtzahl der Opfer

Die meisten Deportiertenkonvois zogen 1915 durch die nordsyrische Metropole Aleppo. Gestützt auf dortige Umfragen unter den Deportierten gelangte die deutsche Botschaft Konstantinopel schon Anfang Oktober 1916 zu folgender Hochrechnung:

„(…) wenn man nun die Gesamtzahl der türkischen Armenier auf 2 ½ und die Zahl der Verschickten auf 2 Millionen veranschlagt und dasselbe Verhältnis zwischen Überlebenden und Umgekommenen wie bei den Waisen der Schwester [Beatrix] Rohner annimmt, so gelangt man zu einer Zahl von über 1 ½ Millionen von Umgekommenen und rund 425.000 Überlebenden. Die bisherigen Schätzungen der Umgekommenen bewegten sich zwischen 800.000 und 1 Million und scheinen nach vorstehendem nicht übertrieben.“

Weitere Hunderttausende Armenier starben bei Massakern, an Seuchen und Entbehrungen infolge der türkischen Invasionen in den Transkaukasus (1918, 1920) sowie während der - in der Türkei so genannten - Befreiungskriege 1920-1922, so dass die Gesamtzahl armenischer Opfer im Zeitraum 1915 bis zur Gründung der Republik Türkei etwa zwei Millionen beträgt.
Und doch bildet die Vernichtung der Armenier nur eine Facette der Monoethnisierung des türkischen Herrschaftsgebiets. Rudolph J. Rummel, der Begründer der vergleichenden Genozidforschung, geht davon aus, dass

„(…) zwischen 1900 und 1923 (…) verschiedene türkische Regime zwischen 3.500.000 bis über 4.300.000 Armenier, Griechen, Nestorianer und andere Christen getötet (haben).”

In seinem Standardwerk Death by Government (1994; dt. Demozid – der befohlene Tod, 2004) gab Rummel die Gesamtzahl der Opfer des armenischen und griechischen Genozids der Türkei mit 2.449.000 Millionen an, davon 2.102.000 Armenier, davon wiederum 1.487.000 armenische Opfer der Jungtürken und 614.000 Opfer der von Mustafa Kemal geführten Nationalisten. Das Ökumenische Patriarchat zu Konstantinopel verzeichnete 750.000 griechische Opfer von Massakern und Todesmärschen unter den Jungtürken; gegenwärtige griechische Forscher nennen Gesamtopferzahlen im Zeitraum 1912-1923 von bis zu 1,5 Millionen (Vgl. Tsirkinidis, Harry: Der Völkermord an den Griechen Kleinasiens 1914-1923. In: Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912-1922. Münster 2004, S. 172 f.).

Kirchliche Vertreter der syrischen Kirchen gingen bei der Pariser Friedenskonferenz (1919) von einer Viertelmillion aramäischsprachiger Opfer in den Jahren 1915-18 aus, während sich heutige Schätzungen auf eine halbe Million belaufen.

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Sekundäre Opfer des jungtürkischen Völkermords

Billigend nahmen die Urheber und Organisatoren des Völkermords in Kauf, dass sich die osmanische Bevölkerung bei den oft typhuskranken armenischen Deportierten ansteckte. Der österreichische Militärbevollmächtigte Joseph Pomiankowski schrieb in seinen Erinnerungen (1928):

„Die aller Reinigungsmöglichkeiten und jeder Hygiene ermangelnden armenischen Karawanen waren Träger und Verbreiter von Krankheitskeimen, es brach infolgedessen in denen von ihnen durchzogenen Gegenden eine allgemeine Flecktyphusepidemie aus, an welcher mindestens eine Million Mohammedaner zugrunde ging. Dies war die Rache der hingemordeten Armenier an ihren Henkern!“

Auch die Leichenbeseitigung wuchs sich zum hygienischen Problem aus: Obwohl die Regierung unter der Aufsicht eines Dr. Tevfik Rüştu Aras und in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium eine Kommission eingesetzt hatte, die dafür zu sorgen sollte, dass die zahllosen Leichen in Massengräbern oder Brunnen mit Kalk bedeckt wurden, blieben viele Tote unbeerdigt. Folglich füllten sich Brunnen, Zisternen, Flüsse und schließlich das gesamte Trinkwassersystem mit verwesenden Leichen. Geier, Schakale und Hunde, deren Zahl 1915 stark zunahm, bildeten oft die einzigen „Bestatter“.

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Versagende Gerechtigkeit

Im Unterschied zur griechisch-orthodoxen Bevölkerung des Osmanischen Reiches besaßen die Armenier keinen Schutzstaat. Die türkisch-nationalistische Vernichtungspolitik traf sie daher mit ungebremster Wucht und inmitten eines Weltkrieges, der die Aufmerksamkeit der alliierten Kriegsgegner der Türkei auf Europa lenkte. Das Osmanische Reich bildete dagegen einen, von Europa aus gesehen, Nebenkriegsschauplatz.

Zwar hatten Frankreich, Großbritannien und Russland am 24. Mai 1915 in einer gemeinsamen Note gegen die “neuerlichen Verbrechen gegen die Menschheit und Zivilisation“ protestiert und der Regierung des Osmanischen Reichs angedroht, sie nach Kriegsende dafür zur Verantwortung zu ziehen, aber ein internationales Tribunal scheiterte an den Einzelinteressen der Alliierten.

Zwar richtete die osmanische Regierung 1919 Militärische Sondergerichtshöfe ein, doch deren Prozesse gegen die Mitglieder des Kriegskabinetts und diverse regional Verantwortliche wurden in den meisten Fällen in Abwesenheit geführt. Die meisten Angeklagten hatten sich noch vor der offiziellen Kriegskapitulation ins Ausland flüchten können, hauptsächlich nach Berlin.

Zweifach lehnte das deutsche Außenministerium die Auslieferung Talat Paşas in seine Heimat ab. Talat hatte als Innenminister (1913 - Januar 1917) neben dem Kriegsminister Enver Hauptverantwortung für die Vernichtung der Armenier getragen. 1921 und 1922 erschossen darum armenische Rächer in Konstantinopel, Berlin und Tbilissi die bei den so genannten Unionistenprozessen zum Tode verurteilten, doch landesflüchtigen Talat, Cemal, Bahaeddin Şakır, Cemal Azmi und andere. Zwei armenische Attentäter – Soromon Tehlerjan (Berlin) sowie Missak Torlakjan (Konstantinopel) – wurden gerichtlich wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen.

Einen souveränen armenischen Staat, in dem die Völkermörder vor ein Gericht hätten gestellt werden können, gab es seit 1921 nicht mehr.

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Prototypus der UN-Völkermordkonvention

Die Strafprozesse gegen die Attentäter Tehlerjan und Torlakjan berührten den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin (1900-1959) stark. Lemkin fragte seinen Jura-Professor, warum die Armenier nicht selbst Talat Paşa festgenommen und vor Gericht gestellt hatten. Sein Hochschullehrer erklärte, dass es kein entsprechendes Gesetz gebe, nach dem der jungtürkische Innenminister hätte angeklagt werden können:

„Vergleichen Sie den Fall mit einem Bauern, der Hühner besitzt. Wenn er sie tötet, ist das seine Sache. Falls Sie sich einmischen, begehen Sie Hausfriedensbruch.“

Lemkin erwiderte empört:

„Ist es denn für Tehlerjan ein Verbrechen, einen Mann zu töten, aber kein Verbrechen für seinen Unterdrücker, falls er über eine Million Menschen tötet?”

Dieser Widerspruch beschäftigte Lemkin lebenslang. Bereits 1933 reichte er der in Madrid tagenden 5. Konferenz des Völkerbundes zur Vereinheitlichung des Strafrechts ein Papier ein, in dem er - vergeblich - dazu aufrief, die “Vernichtung nationaler, religiöser und rassischer Gruppen” genauso zu einem internationalen Verbrechen zu erklären wie Piraterie, Sklaverei und Schmuggel. Er begründete diese Notwendigkeit mit der Erfahrung des Genozids an den Armeniern, der von den meisten Europäern als ein „orientalisches“ Phänomen angesehen wurde. Doch Lemkin, damals ein Staatsanwalt in Warschau, argumentierte, dass das, was im Osmanischen Reich geschehen war, sich auch anderswo wiederholen könnte.

Die Delegation aus Nazideutschland lachte über seinen Vorschlag. Erst nach einem weiteren Weltkrieg und einem weiteren Völkermord, diesmal an den Juden Europas begangen, konnte sich Lemkins Vorschlag in der Nachfolgeorganisation des Völkerbundes durchsetzen: 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen Lemkins Entwurf einer internationalen Konvention zur Bestrafung und Verhütung von Genozid.

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Anerkennung und Leugnung von Völkermord

Im Unterschied zum osmanischen Vorgängerstaat hat die Republik Türkei niemals den Völkermord an den Armeniern als historische Tatsache anerkannt.

Die von den osmanischen Militärgerichtshöfen Verurteilten wurden rehabilitiert, die Familien der wenigen, die für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden konnten, erhielten üppige Staatsrenten und galten als nationale Märtyrer und Helden des Unabhängigkeitskampfes. Talat und Enver ruhen heute in Ehrengräbern auf dem Istanbuler Freiheitshügel. Nach offizieller türkischer Geschichtsinterpretation musste die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reiches wegen ihrer Illoyalität zwangsumgesiedelt werden, jedoch sei damit keine Vernichtungsabsicht verbunden gewesen.

Den Nachfahren der Opfer verursacht diese anhaltende Weigerung zur Anerkennung historischer Tatsachen und zur Verantwortungsübernahme Schmerz und Empörung. Zu Recht gilt in der Völkermordforschung die Leugnung als letzte und integrale Etappe des Verbrechens selbst, als „zweite Tötung“ (Elie Wiesel). In der Türkei wird bis heute die öffentliche Darstellung der Wahrheit strafrechtlich verfolgt, unter anderem mit den notorischen Strafrechtsparagraphen 301 („Schmähung des Türkentums“). Der armenisch-türkische Publizist Hrant Dink, der in seinen Artikeln als erster Türkei-Armenier den Völkermord zu thematisieren wagte, hat diese Zivilcourage mit dem Leben bezahlt: Ein jugendlicher Auftragsmörder erschoss Hrant Dink am 19. Januar 2007 vor dem Büro der Zeitung „Akos“ in Istanbul, nachdem Dink 2006 nach § 301 verurteilt worden war. Trotz internationaler Proteste gegen die Aufrechterhaltung des § 301 wurde das Verfahren gegen Dinks Mitangeklagte – seinen Sohn Arat sowie seinen Mitinhaber Serkis Seropjan – in Istanbul fortgesetzt und endete mit einem Schuldspruch (ein Jahr Haft auf Bewährung).

Die Weigerung der Regierung, des Gesetzgebers und weiter Teile der Gesellschaft der Türkei haben die Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern internationalisiert. Diverse internationale Gremien und 21 nationale Gesetzgeber haben in förmlichen Beschlüssen oder Stellungnahmen den Völkermord an den Armeniern als historische Tatsache entsprechend der UN-Konvention anerkannt, drei Staaten sogar in Gesetzesform:



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Die deutsche Dimension

Deutschland war im Ersten Weltkrieg der wichtigste Militärverbündete des Osmanischen Reiches und übte über eine Militärmission erheblichen Einfluss auch auf die osmanische Heeresleitung aus.

Die für die deutsche Außen- und Militärpolitik Verantwortlichen stellten die Aufrechterhaltung ungetrübter deutsch-türkischer Beziehungen über alle andere Gesichtspunkte und ethischen Grundsätze. So nahm Deutschland nicht nur billigend in Kauf, dass sein Verbündeter vor den Augen deutscher Diplomaten und zahlreicher im Osmanischen Reich beruflich tätiger Deutscher die christliche Bevölkerung ausrottete, sondern einzelne hochrangige deutsche Militärangehörige wurden unmittelbar mitschuldig an der Vernichtung der Armenier (zum Beispiel 1915 bei der Belagerung der auf dem Musa Ler/Musa Dağ oder im Armenierviertel von Urfa verschanzten Armenier).

Für den Bau der Bagdadbahn, einem ambitionierten Wirtschafts- und Militärvorhaben Deutschlands im Osmanischen Reich, stellte die osmanische Heeresleitung Tausende armenischer Zwangsarbeiter zur Verfügung. Bis heute verweigern die Deutsche und die Dresdener Bank als Nachfolgerinnen von deutschen Kreditinstituten, die im Osmanischen Reich ansässig waren, die Rückgabe von Einlagen, die ermordete Armenier bei diesen Banken getätigt hatten.

Ebenso haben einzelne Deutsche sich nach den Massakern von 1895/96 humanitär für Not leidende Armenier engagiert und ihr karitatives Engagement mit Missionsprojekten verknüpft („Deutsche Orientmission“, „Deutscher Hilfsbund für Christliches Liebeswerk im Orient“, „Christoffel-Blindenmission). In der Zeit des Völkermordes wurden die Mitarbeiter der dieser Missionsstationen zu Augenzeugen, ebenso wie die in den meisten osmanischen Provinzhauptstädten vertretenen deutschen Konsuln. Im Unterschied zu den Diplomaten neutraler Staaten durften deutsche Diplomaten auch während des Krieges chiffrierte, unzensierte Botschaften senden.

Deutschland zählt zu den „Anerkennerstaaten“. Der Deutsche Bundestag hat am 16. Juni 2005 (Download pdf, 75kb) mit seinem einstimmig verabschiedeten Beschluss „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“ (Drucksache 15/5689) den Völkermord zwar implizit anerkannt und sich ausdrücklich zu seiner Mitverantwortung bekannt, ist aber der expliziten Verwendung des Wortes „Völkermord“ ausgewichen.

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Ein weltweiter Trauertag: der 24. April

Mit Massenfestnahmen in der Nacht zum 24. April 1915 (alten bzw. julianischen Kalenders) setzte in der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel die Ausschaltung und Vernichtung der intellektuellen und politischen Elite der Armenier ein: Etwa drei Tage lang wurden Schriftsteller und Publizisten, Pädagogen und Banker, Gelehrte, Kaufleute und Parlamentsabgeordnete, Künstler und Musiker festgenommen, ins Zentralgefängnis gebracht und von dort mit der Bahn in die Kleinstadt Çankırı oder in das Dorf Ayaş, beide in der Provinz Angora (Ankara) deportiert. Nach offiziellen osmanischen Angaben handelte es sich um insgesamt 2.345 Festgenommene allein in Konstantinopel.

Auch wenn gerichtliche Untersuchungen keine Schuldbeweise für Hochverrat erbrachten, starben viele der Verschleppten unter der Folter oder wurden zu weiteren Untersuchungen nach Diyarbekir geschickt, in den Amtsbereich des wegen seines Armenierhasses berüchtigten Gouverneurs Dr. med. Mehmet Reşid Şahingiray. Vom 21. April bis 19. Mai 1915 folgte landesweit die Festnahme der übrigen intellektuellen und politischen Führer, oft bis zu 500 Personen in größeren Städten. Viele wurden in den überfüllten Gefängnissen so oft und brutal gefoltert, dass die Behörden Militärkapellen einsetzten, um die Schreie zu übertönen. Nur sehr wenige überlebten, darunter der international bekannte Komponist und Geistliche Komitas (Soromon Soromonjan, 1869-1935), der aber unter dem Eindruck der Gräuel, deren Zeuge er wurde, sein seelisches Gleichgewicht und seine Schaffenskraft einbüßte.

Der 24. April bildet den größten Trauertag im armenischen Jahr und einen offiziellen Feiertag in Armenien. An diesem Tag erlaubt die Armenisch-Apostolische Kirche keine Taufen und Eheschließungen. Weltweit halten armenische Gemeinden Totenmessen und Gedenkveranstaltungen ab.

In der Republik Armenien begeben sich bis zu eine Million Einwohner Jerewans zu Fuß auf den Hügel Zizernakaberd („Schwalbenfestung“), auf dem 1967 ein eindrucksvolles Mahnmal für die Opfer des Völkermordes errichtet wurde. Sie legen Blumen vor der Ewigen Flamme nieder und verneigen sich im stillen Gedenken vor den Toten.

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Armenien, die Türkei und der Völkermord

Der während der Pariser Friedenskonferenz (18.01.-28.06.1918) in Paris tagende Armenische Nationalkongress (24.02.-22.04.1919) veranschlagte den Verlust an Menschenleben und materiellen Gütern, der sowohl der Republik Armenien, als auch den Armeniern des Osmanischen Reiches entstanden war, auf eine Schadenssumme von 3.693.239.766 Dollar. In dieser Schadenserhebung noch nicht enthalten sind die Verluste der ersten Republik Armenien im weiteren Verlauf des Jahres 1919 sowie infolge des zweiten türkischen Angriffs 1920.

Bis zu einer halben Million völlig mittel- und obdachloser Flüchtlinge aus den grenznahen osmanischen Provinzen des historischen Armenien bzw. aus den von der Türkei besetzten südkaukasischen Gebieten drängten sich vor allem in der Araratebene. Hunger, Seuchen, der ungewöhnlich strenge Winter von 1918/19, die von den türkischen Interventen an der Zivil-bevölkerung verübten Massaker und die vollständige Ausplünderung des ohnehin armen Landes dezimierten die Bevölkerung der Republik Armenien von 1.306.700 im Jahre 1918 um 40,5% auf 774.000 (Ende 1920).

Dennoch hat die zweite, postsowjetische Republik Armenien keine territorialen oder sonstigen materiellen Wiedergutmachungsforderungen gegen die Türkei erhoben. Armenien hat viel mehr mit seinem Beitritt zur KSZE 1992 die Anerkennung der bestehenden Grenzen bekräftigt, so wie es bereits 1921 – damals unter dem Diktat Sowjetrusslands – mit dem Karser Vertrag die bestehenden Grenzen anerkannt hat. Es hat sogar darauf verzichtet, die Anerkennung des Genozids von 1915/16 zu einer Vorbedingung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Türkei zu erheben.

In seiner Schlussansprache auf der internationalen Genozid-Konferenz Ultimate Crime – Ultimate Challenge , die anlässlich des 90. Gedenktages an den Völkermord vom Auswärtigen Amt der Republik Armenien in Jerewan abgehalten wurde, erläuterte Außenminister Wardan Oskanian die Grundsätze der armenischen Politik in dieser Frage:

„(…) Es ist aber eine politische Realität, dass sowohl die Türkei, als auch Armenien heute innerhalb der internationalen Gemeinschaft mit ihren gegenwärtigen Grenzen existieren. Es ist eine politische Realität, dass wir Nachbarn sind und nebeneinander leben. Es ist eine politische Realität, dass Armenien keine Sicherheitsgefährdung für die Türkei darstellt. Und schließlich ist es eine politische Realität, dass das heutige Armenien zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der heutigen Türkei aufruft. Aus diesen Gründen stand und steht nichts, was über die Völkermordanerkennung hinausreicht, auf Armeniens außenpolitischer Tagesordnung. (…) Irrtümlich wird geglaubt, wir seien gegen die Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Natürlich möchten wir gern, dass die Türkei sämtlichen europäischen Standards entspricht. Wir möchten, dass die Türkei Belgien, Italien und anderen Staaten ähnelt. Wir möchten, dass die Türkei ein EU-Mitglied wird, so dass unsere Grenzen offen stehen und unsere Landsleute und Turkologen freier über den Völkermord sprechen können. Wir möchten, dass die Türkei als Mitgliedsstaat unsere Kirchen und Liegenschaften schützt und restauriert. Armenien glaubt daran, dass die Türkei gerade jetzt, wo sie Menschen- und Bürgerrechte, die Freiheit der Meinungsäußerung und der Religion überprüfen muss, ermutigt und überzeugt werden sollte, die Vergangenheit anzuerkennen. Eine derartige Ermutigung und Überzeugung muss sowohl von außen, als auch – und das ist wichtiger, wie gestern Hrant Dink betont hat – aus der türkischen Gesellschaft heraus erfolgen. Türkische Autoren und Politiker haben den schwierigen Prozess der Selbsterforschung und –prüfung eingeleitet. Einige tun dies öffentlich und mit großer Transparenz. Wir können nur annehmen, dass Europa davon ausgeht, dass eine Türkei, die es ernst mit ihrer EU-Mitgliedschaft meint und die wahrhaftig fähig ist, mit den komplexen Beziehungen, die eine EU-Mitgliedschaft zur Folge hätte, herum zu tricksen, ihre Vergangenheit bereinigen muss. Es ist in diesem Zusammenhang wesentlich, dass die internationale Gemeinschaft nicht die Regeln bricht und sich nicht blind stellt, dass sie die Standards nicht senkt, sondern umgekehrt fortgesetzt ihre eigene Vorbildrolle erhöht und Armenien, Türken sowie allen Europäern ein Beispiel dafür gibt, wie man seine eigene Geschichte überwindet, um sich zu einer neuen Geschichte hinzubewegen.“

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