Kultur in Armenien
In südöstlicher Richtung – 21 km von Jerewan entfernt – beim Dorf Garni, befindet sich einer der malerischsten Winkel Armeniens.
Die erste Ansiedlung im Gebiet des Dorfes Garni kann man im 3. Jh. v.Chr. ansetzen. Zu dieser Zeit wurde hier auf dem Plateau eine Festung gebaut, die Sommerresidenz der armenischen Könige. Dieser Ort wurde nicht zufällig gewählt. Das Uferplateau fällt steil in eine 100 m tiefe Schlucht ab, wo der stürmische Fluss Asat dahinbraust, und das Steilufer eine unbezwingbare Wand aus Basalt bildet. Seitens des Plateaus wurde die Festung durch eine Mauer bis zu einer Höhe von 25 m geschützt, die aus gewaltigen behauenen Basaltblöcken errichtet worden war.
Das Festungsgebiet ist ein richtiges archäologisches Museum. Hier blieben die Schlosseinrichtungen, Weinkeller, Wasserbecken, Bad u.a. erhalten. Die Hauptsehenswürdigkeit jedoch ist das einzige erhalten gebliebene Denkmal aus der Epoche der hellenistischen Kultur, der heidnische Tempel Garni. Er wurde im 1. Jh. n.Chr. durch den Begründer der Dynastie des Königsgeschlechts Arsakes, durch Tiridates I. erbaut. Nach Meinung von Spezialisten zählt der Tempel in Garni zu den Perlen unter den heidnischen Tempeln der Antike des Ostens.
Was eigentlich stellt der Tempel dar?
Es ist ein viereckiges massives einstöckiges Gebäude (Pheriptheros römischen Typs), das von allen Seiten mit fein verzierten Säulenhallen umgeben ist. Der ganze Tempel hat eine Einfassung aus 24 gigantischen Säulen mit kunstvoll ornamentierten Kapitellen und bewundernswerten Steinmetzarbeiten an den Decken der Galerie. Zu dem reich geschmückten Eingang führt eine viel stufige Treppe, die zugleich dem Bauwerk als Sockel dient.
Dieses einzigartige Denkmal wurde durch eines der stärksten Erdbeben im Jahre 1679 in eine Ruine verwandelt.
Über Jahrhunderte fesselte dieses bemerkenswerte architektonische Bauwerk die Aufmerksamkeit vieler Baumeister und Künstler. 1843 legte der Schweizer Architekt Frederic Dubois de Montperier den ersten Entwurf zur Rekonstruktion des Tempels vor. 1885 warf der bekannte russische Forscher Graf A. Uwarow auf dem 5. Russischen Kongress der Archäologen die Frage nach der Wiederherstellung des seltenen Bauwerks auf.
Aus den Ruinen zu erheben und erneut der Welt dieses Meisterwerk der antiken Architektur zu zeigen, war der Traum vieler Wissenschaftler. Der Tempel in Garni ist wiederhergestellt, ein Weltkulturerbe. Man wird wohl kaum einen Menschen finden, der vor diesem erstaunlichen Werk menschlicher Hände unberührt bliebe.
Von Garni aus führt der Weg über 10 km aufwärts, zu einem nicht sehr großen Bergtalkessel, zu einem der unikalen Bauwerke mittelalterlicher Architektur – dem Höhlenkloster Geghard, das am Oberlauf des Flusses Asat liegt. Dieses Wort bedeutet auf armenisch „Speer“, was niemand auf den ersten Blick mit einer friedlichen Kirche in Verbindung bringt.
Aber eine vorhandene uralte Legende berichtet, dass, als Jesus Christus ans Kreuz geschlagen wurde, einer der römischen Legionäre ihm einen Speer in die Seite stieß. Und dieser Speer wurde in der Folge zur heiligen Reliquie, die sorgfältig in der Kirche aufbewahrt wurde. Mindestens in 100 christlichen Kirchen Europas und Asiens wird ein solcher Speer aufbewahrt, und die Diener jeder dieser Kirchen versichern, dass bei ihnen der einzig echte ist, „derselbe“, der im Leibe des Erlösers war.
Aus dem riesigen Felsen ist ein ganzer Komplex von Gebäuden heraus gemeißelt worden: Höhlenkirchen, Kapellen, Klosterzellen, Grabgewölbe, deren Bau die Überlieferung bis auf das IV. Jh. v.Chr. zurückführt.
Komitas (Soghomon Soghomonian, 1869-1935)
Komitas gilt als Begründer der klassischen armenischen Musik der Gegenwart. Geboren 1869 in Kütahya (Osmanisches Reich) als Soghomon Soghomian, wurde er schon mit 11 Jahren zum Vollwaisen. Aufgrund seines musikalischen Talentes bekam er die Möglichkeit, in das Priesterseminar von Edschmiatzin, dem Sitz des armenischen Kirchenoberhauptes (Katholikos), einzutreten. Dort wurde er 1893 zum Priester geweiht und erhielt den Namen Komitas. Dieser Name verweist auf einen Katholikos aus dem 7. Jahrhundert, der als Musiker und Hymnendichter berühmt war. Hinzu kommt der akademische Grad, der einem Doktortitel entspricht; bei Geistlichen ist im Armenischen der Begriff „Vardapet“ gebräuchlich. (Anders lautende Transliteration, der westarmenischen Aussprache folgend: Gomidas Vartabed).
Das durch Katholikos Mkrtitsch Chrimian, genannt „Hairik“ (Väterchen), vermittelte Stipendium eines reichen Kaufmanns ermöglichte es ihm, seine Studien in Tiflis, das damals neben Konstantinopel das wichtigste geistige Zentrum der armenischen Kultur war, fortzusetzen. Dort studierte er Komposition bei Makar Ekmalian, der noch heute für seine Fassung der Heiligen Messe bekannt ist. Auch Komitas hat zeitlebens an einer Neufassung der durch jahrhundertealte Tradition in ihrer Archaik bewahrten Liturgie (armenisch Patarag) nach armenisch-apostolischem Ritus gearbeitet. Zugleich wandte er sich schon in diesen Jahren der Volksmusik zu, aus der sich er das unverfälschte Wesen der uralten armenischen Musik zu gewinnen vornahm.
1896-99 ging Komitas Vardapet nach Berlin, wo er sich am privaten Konservatorium von Prof. Richard Schmidt einschrieb und gleichzeitig an der Kaiser-Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität) Vorlesungen zur Ästhetik und Musiktheorie besuchte. Aus dieser Zeit sind einige Kompositionen mit Texten deutscher Dichter (Goethe, Uhland, Storm etc.) erhalten, die ganz in der Nachfolge des deutschen Liedes von Schubert, Schumann und Hugo Wolf stehen. Zugleich lassen diese Lieder jedoch auch schon einen unverkennbaren Personalstil, der die armenische Musiktradition mit den Eindrücken der deutschen Romantik zu verbinden versteht, erahnen.
Hinzu kommen erste Chorstücke, z. T. ebenfalls mit deutschen Texten (z.B. die Psalmvertonung „An den Wassern Babylons“). In Berlin schrieb Komitas auch erste Artikel über die Musik seiner armenischen Heimat (sowohl über die Volksmusik als auch über die Kirchenmusik). Damit wurde er in die eben erst gegründete Internationale Musikgesellschaft aufgenommen, die einige seiner musikethnologischen Arbeiten im Rahmen ihrer Zeitschrift publiziert hat. Später wurde auch eine der Volksliedsammlungen – „Dorflieder aus Armenien“ – in Deutschland verlegt (bei Breitkopf und Härtel in Leipzig).
Der weitere Lebensweg des Musikwissenschaftlers, Pädagogen, Chorleiters, Sängers und Komponisten Komitas ist zum einen von der ungeheuren Popularität geprägt, die ihm öffentliche Auftritte von Kairo über Paris, Venedig und Berlin bis Konstantinopel einbrachten, zum anderen von seinen Konflikten mit den kirchlichen Autoritäten, die seine Liebe zur Volksmusik als eines Geistlichen unwürdig kritisierten und ihn deshalb immer wieder angriffen. Darin muss man wohl einen der Gründe sehen, warum Komitas einige begonnene Opernprojekte nicht zu Ende führte.
Auch die Bearbeitung und Herausgabe der vielen Tausend Weisen, die Komitas bei seinen Reisen durch das armenische Hochland gesammelt hatte, wurde durch den Konflikt mit der Kirche erschwert. Was sich von den Früchten seiner jahrelangen Streifzüge durch die Dörfer erhalten hat (mittlerweile in der 7-bändigen Jerewaner wissenschaftlichen Werkausgabe publiziert), muss heute als einer der größten Schätze des armenischen Volkes angesehen werden; denn diese über Jahrhunderte mündlich tradierte Kultur fiel im Osmanischen Reich ab 1915 zum größten Teil der planmäßigen Vernichtung und Ausrottung des armenischen Volkes durch das jungtürkische Regime zum Opfer.
Opfer der Deportation wurde auch Komitas selbst. Zusammen mit einigen Hundert armenischen Intellektuellen, Geistlichen und Künstlern – nahezu der gesamten Elite des Volkes – wurde er am 24. April 1915 in Konstantinopel verhaftet und ins Landesinnere verschleppt. Er gehörte zu den wenigen, die der Ermordung entkommen konnten; wahrscheinlich hat die Intervention des amerikanischen Botschafters Henry Morgenthau ihm das Leben gerettet. Nach seiner Rückkehr nach Konstantinopel verschlechterte sich jedoch sein Geisteszustand immer mehr. Eine in letzter Zeit durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauerte These sieht ihn als Opfer eines posttraumatischen Stress-Syndroms, das ihn im Zusammenwirken mit anderen widrigen Umständen schließlich zum unheilbar psychisch Kranken gemacht hat. Daran konnte auch seine Verlegung nach Frankreich, die 1919 über seinen Kopf hinweg auf Initiative seiner Freunde geschah, nichts ändern. Bis zu seinem Tod 1935 lebte Komitas zunächst in Ville Evrard, dann im Krankenhaus von Villejuif in einem Zustand tiefer Apathie und großen Misstrauens gegen seine Umwelt. Seine musikalischen Arbeiten hat er nie mehr fortsetzen können.
Komitas, dessen Grab sich heute auf dem Ehrenfriedhof in Jerewan, dem „Pantheon“, befindet, wurde für sein Volk zum Synonym für die Katastrophe des Genozids. Es ist kein Zufall, dass das Genozid-Mahnmal in Paris unweit des Champs-Elysées die Gestalt einer Komitas-Statue hat. Sein Lied vom Kranich, der keine Nachricht aus der fernen Heimat mitgebracht hat („Krunk“), ist zum tiefen Ausdruck für den Verlust des historischen Westarmenien geworden – ebenso wie das Klagelied „Le le jaman“ oder das Lied vom Obdachlosen („Antuni“). Von vielen wird Komitas heute wie ein Heiliger verehrt. Auch die Armenisch-apostolische Kirche anerkennt heute seine Verdienste vorbehaltlos. Das Staatliche Konservatorium in Jerewan, für dessen Gründung Komitas schon in den 1910er Jahren vergeblich den Katholikos zu interessieren versucht hatte, trägt seinen Namen. Die zeitgenössische armenische Musik ist ohne ihn nicht denkbar. Umso beklagenswerter ist es, dass dieser großartige Künstler und Wissenschaftler außerhalb Armeniens – zumal in Deutschland, das seinen Lebensweg so nachhaltig mitbestimmt hat – so wenig bekannt ist.
[Eine repräsentative Einspielung von 26 armenischen und neun deutschen Liedern von Komitas hat die armenische Sopranistin Hasmik Papian 2005 vorgelegt. Diese SACD entstand in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk und wurde bei dem deutschen Label Audite veröffentlicht.]
Aram Chatschatrian (1903-1978)
Der 1903 in Tiflis geborene Komponist Aram Chatschatrian (anders lautende Schreibweisen: Chatschaturjan, Khatchatryan, Khachadourian etc.) ist wohl einer der bekanntesten Armenier weltweit. Der Säbeltanz aus seiner Ballettmusik „Gajaneh“ ist eines der populärsten Stücke des gesamten klassischen Repertoires. Bekannt geworden ist das Stück mit dem markanten ostinaten Rhythmus u.a. durch Billy Wilders Filmkomödie „Eins, zwei, drei“, die im Berlin der 1960er Jahre kurz vor dem Mauerbau spielt. Darin tanzt Lieselotte Pulver zu Chatschatrians Musik in einer Bar auf dem Tisch. Auch die Marke „Kosakencafé“ hat in den 1970er Jahren im TV mit dem Motiv geworben.
Chatschatrian lernte zunächst Tenorhorn und Cello spielen und studierte dann in Moskau Komposition (u.a. bei Michail Gnessin). Zum Abschluss seines Studiums komponierte er seine 1. Symphonie. Der internationale Durchbruch kam wenig später mit dem Klavierkonzert (1937), das bis heute einen festen Platz im klassischen Repertoire hat – wie auch das Violinkonzert (1940 für David Oistrach komponiert) und das Cellokonzert (1946). Neben „Gajaneh“ hat sich das Ballett „Spartakus“ durchgesetzt. Von beiden Ballettmusiken existieren diverse Bearbeitungen als Orchestersuite, die immer wieder gerne gespielt werden.
Die Hymne der Sowjetrepublik Armenien wurde von Aram Chatschatrian komponiert. Zugleich verarbeitete er nationale Elemente – vor allem aus der armenischen Tradition – in seinen Werken. Daneben entstanden zahlreiche Film- und Schauspielmusiken sowie kammermusikalische Werke. Chatschatrian ist auch als Dirigent, vor allem eigener Werke, sehr erfolgreich gewesen. Ab 1951 war er zusätzlich als Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium tätig.
Zusammen mit Schostakowitsch, Prokofjew und anderen geriet Chatschatrian 1948 in die Schusslinie der Parteifunktionäre der KPdSU. Ebenso wie die anderen musste er sich öffentlich dem Vorwurf des „Formalismus“ stellen und Abbitte leisten – für einen überzeugten Kommunisten wie Chatschatrian eine zutiefst demütigende und traumatisierende Erfahrung. Seiner Popularität in Ost und West tat diese Episode aber letztlich keinen Abbruch. Nach seinem Tod 1978 in Moskau wurde Aram Chatschatrian auf dem Ehrenfriedhof „Pantheon“ in Jerewan beigesetzt. Vor dem Haupteingang der Armenischen Philharmonie in Jerewan, deren Großer Saal ebenfalls nach ihm benannt ist, ist sein Denkmal aufgestellt.
Avet Terterian (1929-1994)
Avet Terterian (anders lautende Schreibweise: Awet Terterjan) wurde 1929 als Sohn armenischer Eltern in Baku geboren, wo er zunächst auch sein Musikstudium aufnahm. Ab 1951 setzte er es in der armenischen Hauptstadt Jerewan fort und schloss im Fach Komposition bei Eduard Mirsoian ab. Bereits 1957-1959 lehrte er am Komitas-Konservatorium Musiktheorie, Instrumentierung und Komposition; ab 1970 gehörte er dem Institut als Dozent an, ab 1983 war er Inhaber einer Professur.
Der eigenwillige Künstler hat die meisten seiner Werke während langer Perioden kreativer Einsamkeit in einem Cottage der Wohnanlage des Armenischen Komponistenverbandes im Hochgebirgstal Dilidschan komponiert, ab 1992 dann in seinem Haus am Sewansee. 1994 bekam er das Brandenburg-Stipendium und arbeitete und lebte sechs Monate lang in Schloss Wiepersdorf. Für 1995 war ihm ein ganzjähriges Stipendium des DAAD in Berlin zugesprochen, das er nicht mehr wahrnehmen konnte: Avet Terterian starb im Dezember 1994 völlig überraschend im russischen Jekaterinburg, wo er an einem ihm gewidmeten Festival teilnehmen wollte.
Terterians Hauptwerk bilden, neben den beiden Opern „Der Feuerring“ (1967) und „Das Beben“ (1984) sowie der Ballettmusik „Monologe Richards III.“ (1979) und einigen vokalsymphonischen Zyklen vor allem seine acht Symphonien, entstanden zwischen 1969 und 1989. Sie sind jede auf ihre Weise unverwechselbar, insgesamt jedoch Ausdruck eines Personalstils von großer Geschlossenheit, Ausdruckskraft und weitreichendem, von Terterians musikphilosophischer Intention getragenem Anspruch. Zu den Symphonien, in denen häufig Chor und auch einzelne Singstimmen eingesetzt werden sowie einzelne Instrumente aus der armenischen Volksmusik (Duduk, Surna, Kamantscha, Dhol, Dab), treten eine Anzahl früher Klavierlieder, Filmmusiken sowie einige Kammermusikwerke, von denen die Cellosonate (1960) und die beiden Streichquartette (1963 und 1991) hervorzuheben sind.
Die Oper „Der Feuerring“ nach Texten von Jeghische Tscharentz wurde nach ihrer Uraufführung in Jerewan auch an der Oper Halle gespielt. Dort gab man, in Zusammenarbeit mit der Edition Peters, in den 1980er Jahren bei Terterian eine neue Oper in Auftrag, der ein deutsches Libretto zugrunde liegen sollte.
Nachdem sich Terterian zunächst für Bertolt Brechts „Mutter Courage“ interessiert hatte, dafür aber keine Rechte zu bekommen waren, entschied er sich für die Kleistnovelle „Das Erdbeben in Chili“. Viele Jahre, bevor 1988 das reale Erdbeben die nordarmenischen Provinzen Schirak und Lori erschütterte und über 25.000 Opfer forderte.
Die stark oratorisch angelegte Partitur der Oper „Das Beben“ überstieg mit ihren Anforderungen an einen großen Orchesterapparat, mehrere Chöre und Tonbandzuspielungen jedoch die Möglichkeiten des Opernhauses in Halle und wurde erst 2003 posthum am Staatstheater am Gärtnerplatz in München uraufgeführt (in einer Inszenierung von Claus Guth; Musikalische Leitung: Ekkehard Klemm). Diese Aufführung wurde zum Sensationserfolg bei Presse und Publikum. Das Werk blieb bis Juli 2007 im Repertoire des Staatstheaters am Gärtnerplatz und wurde insgesamt über 20mal aufgeführt.
Daneben rücken vor allem die Symphonien immer mehr in den Blickpunkt des internationalen Musikbetriebes. Zu Sowjetzeiten oft heftig angefeindet, quer stehend zu den Entwicklungslinien der Zeitgenossen, scheint die Zeit für Terterians monumentale Werke, in denen er die Modernität z. T. avancierter Kompositionstechniken und die orientalische Archaik eines kontemplativ erweiterten Zeitempfindens in der Beschäftigung mit dem Mysterium des einzelnen Tones zu verbinden wusste, erst langsam zu reifen.
Tigran Mansurian (geb. 1939)
Tigran Mansurian wurde 1939 in Beirut geboren. Im Rahmen der Repatriierungswelle der 1940er Jahre wurde er mit seiner Familie in die Sowjetrepublik Armenien eingebürgert. Seit 1956 lebt er in Jerewan, wo er 1967 sein Kompositionsstudium mit der Promotion beendete. 1968-1990 lehrte er am Komitas-Konservatorium Analyse und Formlehre der zeitgenössischen Musik. Seit der Unabhängigkeit der Republik Armenien 1991 widmet er sich ganz seinem kompositorischen Schaffen.
Mansurians musikalisches Denken ist zum einen von Debussy beeinflusst, zum anderen ist und bleibt Komitas der immer wiederkehrende Ausgangspunkt für ihn. Der Komponist selbst bezeichnet zudem die armenische Sprache als seinen größten Lehrmeister. So ist es nicht überraschend, dass am Anfang vokale Kompositionen stehen; z.B. die „Vier Hajren“, auf vier der über 100 überlieferten, „Hajren“ genannten Achtzeiler des mittelalterlichen Dichters Nahapet Kutschak (16. Jh.). Eine der Prosodie folgende, freie Metrik kennzeichnet Mansurians Musik ebenso wie die tiefgehende Beschäftigung mit den vielfältigen Formen und Dialekten in der armenischen Dichtung vom 5. Jahrhundert bis heute. Ein rezitativischer Duktus, der auch losgelöst von konkreten Texten zu starken musikalischen Wirkungen findet, lässt sich als Grundzug beschreiben. Techniken westlicher Avantgarde verbinden sich dabei mit dem kontinuierlichen Bezug auf armenische Traditionen, modale Strukturen und uralte melodische Modelle fließen ebenso selbstverständlich in die Arbeit ein wie das Experimentieren mit Klangwirkungen, die Mansurian direkt aus der Beschäftigung mit der Lautlichkeit der armenischen Sprache, deren Expressivität u. a. durch Konsonantenballungen geprägt ist, gewinnt.
Tigran Mansurians umfangreiches Œuvre umfasst Vokal-, Kammermusik- und Orchesterwerke. Interpreten wie Alexei Lubimov, Boris Berman, Oleg Kagan und Natalia Gutman haben seine Kompositionen aufgeführt. Der Komponist steht in schöpferischem Austausch mit Berufskollegen wie Valentin Silvestrov, Arvo Pärt, Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, André Volkonsky und Edison Denisov. Eine besonders intensive Arbeitsbeziehung verbindet ihn mit der armenischstämmigen kanadischen Bratschistin Kim Kashkashian und dem Schlagzeuger Robyn Schulkowsky. Aber auch mit Künstlern wie Jan Garbarek, Leonidas Kavakos, dem Hilliard Ensemble und dem Münchener Kammerorchester unter der Leitung von Christoph Poppen hat Mansurian in den letzten Jahren zusammengearbeitet.
In Deutschland ist seine Musik vor allem durch Manfred Eicher, der auf seinem Plattenlabel ECM „New Series“ wichtige Konzeptalben mit der Musik von Tigran Mansurian vorgelegt hat, bekannt geworden: „Hayren“ (2003; auf dieser CD ist Mansurian auch als Interpret von Komitas zu hören), „Monodia“ (2004), die Streichquartette Nr. 1 und 2 sowie „Testament“ (2005) und zuletzt „Ars Poetica“ (2006): Vertonungen von Texten des Dichters Jeghische Tscharentz, aufgenommen mit dem Armenischen Kammerchor im Kloster Saghmosawank.
Weitere zeitgenössische Komponisten aus Armenien:
Weitere Vertreter der zeitgenössischen klassischen Musik Armeniens sind Eduard Mirsoian, Alexander Harutjunian und Arno Babadschanian.
Eduard Mirsoian (das „s“ ist stimmhaft zu sprechen; anders lautende Namensschreibung: Edvard Mirzoyan) kann als der Doyen der armenischen Komponistengeneration der Gegenwart bezeichnet werden. Der 1921 in Gori geborene Armenier schloss 1941 das Komitas-Konservatorium in der armenischen Hauptstadt Jerewan ab und absolvierte weitere Kompositionsstudien bei Heinrich Litinskij (einem in der sowjetischen Musikgeschichte sehr einflussreichen Lehrer, bei dem auch Babadschanian und Harutjunian studierten) am Haus der armenischen Kultur in Moskau. Ab 1948 unterrichtete er am Konservatorium in Jerewan Komposition. 1956-1991 war er Vorsitzender des Komponistenverbandes der Armenischen Sowjetrepublik. In dieser Eigenschaft hat Mirsoian viele wichtige kulturpolitische Weichenstellungen getroffen. Er hat viele jüngere Komponistenkollegen (wie z.B. Avet Terterian) ausgebildet und ihnen den Weg geebnet. Aus seinem Schaffen sind Orchesterwerke wie die Symphonie für Streichorchester und Pauken, eine Reihe von Romanzen für Singstimme und Klavier sowie weitere kammermusikalische Werke wie das Streichquartett „Thema mit Variationen“ oder das Klavieralbum „Für meine Enkeltochter“ bis heute beliebt. 2005 wurde sein 85. Geburtstag zum Anlass zahlreicher Würdigungen und Aufführungen seiner Werke in Armenien und anderswo.
Alexander Harutjunian (geb. 1920; anders lautende Namensschreibungen: Aleksandr Harutyunyan, Haroutunian, auch Arutyunyan – da das kyrillische Alphabet kein „h“ kennt, ging dieser Buchstabe bei vielen armenischen Namen auf dem Umweg über die russische Namensform verloren) ist vor allem durch sein Trompetenkonzert international bekannt geworden, das bis heute weltweit regelmäßig auf Konzertprogrammen steht. Er schloss das Komitas-Konservatorium 1941 ab und wurde 1962 Professor an diesem Institut. Außerdem war er zeitweise Künstlerischer Leiter des Armenischen Philharmonischen Orchesters. Aus Anlass seines 85. Geburtstages gab es 2005 zahlreiche Konzerte, vor allem in Jerewan. 2007 soll seine Oper „Sajat Nova“ an der Armenischen Nationaloper in Jerewan wiederaufgeführt werden. Ähnlich wie viele andere sowjetische Komponisten seiner Generation hat auch Harutjunian zahlreiche Filmmusiken geschaffen.
Arno Babadschanian (anders lautende Namensschreibung: Babadjanian) wurde 1921 in Jerewan geboren und starb 1983 in Moskau. Babadschanian war von Kindheit an mit der armenischen Volksmusik vertraut. 1947 schloss er das Konservatorium in Jerewan ab und absolvierte bis 1948 zusätzlich die Klavier-Meisterklasse von Prof. Konstantin Igumnov am Moskauer Konservatorium. In Moskau nahm er auch Kompositionsunterricht bei Heinrich Litinskij am Haus der Armenischen Kultur. Arno Babadschanian war zeitlebens ein gefeierter Pianist und leitete 1950-1956 die Klavierklasse am Jerewaner Konservatorium. Zusammen mit Alexander Harutjunian entstand 1950 die „Armenische Rhapsodie“ für zwei Klaviere; ebenfalls 1950 entstand seine „Heroische Ballade“ für Klavier und Orchester. 1952 schrieb Babadschanian sein Klaviertrio und 1954 das Orchesterwerk „Poème-Rhapsodie“. 1959 folgten eine Violinsonate und ein Cellokonzert, das Mstislav Rostropovich gewidmet ist. Zu seinen letzten Kompositionen gehören die „Sechs Bilder für Klavier“ (1965), das Dritte Streichquartett (1979) and die „Nocturne für Klavier und symphonisches Jazzensemble“ (1981). Viele seiner vokalen Kompositionen sowie zahlreiche Filmmusiken fanden auch als Schlager weite Verbreitung in der ehemaligen Sowjetunion. Daneben sind vor allem seine hochvirtuosen Klavierkompositionen in der Nachfolge Rachmaninovs hervorzuheben.
Armenische Interpreten von Weltruf in Deutschland
Zurzeit leben in Deutschland (deutschsprachiger Raum) berühmte und weltbekannte Interpreten aus Armenien. Hier können Sie sich mit einigen von ihnen bekannt machen.
Hasmik Papian (Sopran)
„Gorgeous, pure magic, heavenly, divine, the biggest success of the season, triomphe absolu, géniale, magnifique, Jubel für Papian...“ – das sind einige der Attribute, mit denen die Künstlerin in den letzten Jahren in der internationalen Presse gewürdigt wurde. Dabei fehlt in fast keiner Kritik die Formulierung: „die armenische Sopranistin“.
Hasmik Papian, die heute in Wien lebt, hat ihre beispiellose Karriere 1986 an der Nationaloper ihrer Heimatstadt Jerewan begonnen, wo sie auch ausgebildet wurde: an der nach Komitas benannten Hochschule schloss sie zunächst im Fach Violine und dann im Fach Gesang ab. Nach Festengagements an der Oper Bonn und an der Deutschen Oper am Rhein wurde sie schon bald an eine Vielzahl von Opernbühnen auf der ganzen Welt eingeladen – darunter die renommiertesten: die Mailänder Scala, die Pariser Bastille-Oper, regelmäßig die New Yorker Met und die Wiener Staatsoper, ans Opernhaus Zürich, an die Staatsopern von München, Stuttgart, Karlsruhe, Dresden, Hamburg und Berlin, die Deutsche Oper Berlin, das Aaltotheater Essen, das Nationaltheater Mannheim, die Oper Köln etc.
Hasmik Papian ist in Nord- und Südamerika, Japan, Korea, im Nahen Osten sowie in den meisten Ländern Europas aufgetreten und hat mit Dirigenten wie Georges Prêtre, Marcello Viotti, Valery Gergiev und Ricardo Muti zusammengearbeitet. Das breit gefächerte Opernrepertoire reicht von Mozarts Donna Anna (Don Giovanni), Rossinis Mathilde (Guillaume Tell) und Halévys La Juive über die großen Partien von Verdi (Traviata, Aida, Desdemona, Elisabetta, Elvira, Amelia, Leonora, Odabella, Abigaille etc. sowie das Requiem) und Puccini (Mimì, Tosca, Suor, Angelica, Butterfly, etc.) bis hin zu Tschaikowskys Lisa (Pique Dame). Eine zentrale Rolle ist Bellinis Norma, die sie u. a. an der Wiener Volksoper, in Mannheim, Stuttgart, St. Gallen, Rotterdam, Amsterdam (2006 bei opus arte auf DVD erschienen), beim Festival Chorégies d’Orange, in Marseille, Montpellier, Turin, Trapani, Washington DC, Detroit, Denver und Montreal sang.
Hasmik Papian trägt den Titel „Volkskünstlerin der Republik Armenien“ (entspricht dem deutschen Titel einer Kammersängerin) und wurde 2005 von Garegin II., Katholikos aller Armenier, mit dem St. Maschtotz-St. Sahak-Orden ausgezeichnet. 2006 erschien bei dem deutschen Label audite die SACD „Hommage à Komitas“ mit 35 Liedern des armenischen Komponisten (am Klavier: Vardan Mamikonian). Auf DVD liegt, neben der Amsterdamer Norma, auch Pique Dame (in einer Aufführung der Pariser Bastille-Oper) vor.
Vardan Mamikonian (Klavier)
„Mit Mamikonian hat die Welt der romantischen Klavierkunst nicht nur einen fabelhaften Techniker und Klangkünstler hinzugewonnen, sondern vor allem einen superben Stilisten.“ – So würdigte eine in der Süddeutschen Zeitung erschienene Kritik den Pianisten. Vardan Mamikonian, geboren 1970, heute in Paris und Ingolstadt ansässig, begann seine Ausbildung in seiner Heimatstadt, der armenischen Hauptstadt Jerewan, bevor er mit 16 Jahren nach Moskau wechselte. Dort besuchte er zunächst die Zentralschule für Musik und studierte dann am Tschaikowsky-Konservatorium. Ab 1991 studierte er an der Accademia Pianistica im italienischen Imola bei Lazar Berman, die er mit dem Meisterdiplom abschloss.
Bereits 1981 gewann er beim Klavierwettbewerb der Sowjetrepubliken in Vilnius den 1. Preis. Weitere Erste Preise folgten 1990 in Saint-Germain-en-Laye und Monte Carlo. Seither startete der junge Armenier seine internationale Laufbahn, die ihn schon weit gebracht hat. Bisherige Höhepunkte waren Recitals in der New Yorker Carnegie Hall, London Wigmore Hall, Paris Salle Pleyel und Salle Gaveau, Tonhalle Zürich, Gewandhaus Leipzig, Wiener Musikverein, Grand Theatre Shanghai, usw.
Vardan Mamikonian trat als Solist u. a. mit dem Kirov-Orchester St. Petersburg, dem Tschaikowsky-Orchester Moskau, dem Houston Symphony Orchestra, dem National Symphony Orchestra Washington D.C., dem San Francisco Symphony, dem Los Angeles Philharmonic und der Orchestra Nazionale della RAI auf und arbeitete dabei mit Dirigenten wie Valery Gergiev, Vladimir Fedoseyev, Eliahu Inbal, Lothar Zagrosek und Leonard Slatik zusammen.
Er ist vor allem als hervorragender Interpret der großen Klavierwerke von Brahms, Liszt, Chopin, Rachmaninow, Prokofiev, Tschaikowsky und Ravel bekannt geworden, widmet sich aber auch vielen Werken des 20. Jahrhunderts (u. a. Arno Babadjanian). Neben zahlreichen Radio- und Fernseheinspielungen liegen als CD bisher Einspielungen u.a. mit Werken von Bach und Liszt sowie die ersten Klavierkonzerte von Rachmaninow, Liszt und Mendelssohn-Bartholdy mit dem RSO Frankfurt unter David Stahl vor.
Sergey Khachatryan (Violine)
Sergey Khachatryan wurde 1985 als Sohn einer Musikerfamilie in der armenischen Hauptstadt Jerewan geboren und lebt seit 1993 in Deutschland. Der junge Geiger gehört schon jetzt zu den erfolgreichsten Interpreten weltweit. Mit sechs Jahren erhielt er seinen ersten Geigenunterricht bei Professor P. Haykazyan in Armenien. Anschließend studierte er bei Professor Grigory Zhislin in Würzburg und ist seit 1996 Schüler von Prof. Josef Rissin in Karlsruhe. Als Neunjähriger gab Sergey Khachatryan im Wiesbadener Kurhaus sein erstes Konzert mit Orchester. Zwei Jahre später folgte im französischen Marignane sein kammermusikalisches Debüt. Seit dem Frühjahr 2000 ist er Stipendiat der Anne-Sophie Mutter Stiftung.
Sergey Khachatryan war 2000 Preisträger mehrerer Wettbewerbe: Fritz Kreisler in Wien, Lous Spohr in Freiburg und Jean Sibelius in Helsinki. 2005 stellte er sich nochmals einem Wettbewerb: Königin Elisabeth in Brüssel, dem wohl renommiertesten seines Fachs, den er gewann – und damit auch eine Stradivari „Huggins“ von 1708. Er ist bereits in einer Vielzahl von Ländern in Europa, Asien und Nordamerika aufgetreten und hat mit vielen berühmten Orchestern konzertiert: u. a. Royal Philarmonic, Birmingham Symphony, English Chamber, RSO Frankfurt, RSB Berlin, National de France, Tokyo Philharmonic, Cleveland Orchestra und New Yorker Philharmoniker mit Dirigenten wie Daniel Harding, Vladimir Fedoseyev, Roberto Abbado und Kurt Masur. Es liegen 2 CD’s vor; vor allem die Einspielung von Schostakowitschs Violinkonzerten mit Kurt Masur hat für Furore gesorgt.